„Ich wehre mich gegen eine Festlegung und möchte meine Arbeit nicht durch einen persönlichen Stil definieren, denn es geht in erster Linie um einen angemessenen Stil. Eine abschließende Kategorisierung ist nicht möglich: Ist es künstlerisch oder dokumentarisch? Die Fotografie hat sich verändert und ist von der rein dokumentarischen Arbeitsweise befreit, auch wenn sie diesen Anspruch haben kann. ‚Feuerwache II‘ ist zwar dokumentarisch, aber nie nur das; es steckt ein stark narratives Element darin, ich möchte Geschichten erzählen. Fotografie muss sich nicht mehr kategorisieren lassen. Ich arbeite phänomenologisch und nähere mich Dingen aus verschiedenen Perspektiven. Manchmal scheitere ich, aber ich glaube nicht, dass ich immer zu einem bestimmten Ergebnis kommen muss. Es sind die sinnlichen Wahrnehmungen – Farben, Formen, Geräusche, Gerüche –, die die Grundlage meiner Darstellung bilden. Die Entscheidung zwischen künstlerisch oder dokumentarisch treffe ich fallweise, wobei in den meisten meiner Arbeiten ein Mix aus beidem vorhanden ist. Alfred Andersch beschrieb Atmosphäre als die ‚Haut der Poesie‘, was genau beschreibt, wie ich eine Atmosphäre empfinde und versuche, sie festzuhalten.“ Hermann Recknagel hat in der alten Mainzer Feuerwache Erfahrungen visualisiert, die sonst verloren wären. Dr. Irene Schütze.
Tristan Marquardt Livres




Was tun Gedichte im Raum einer Kommunikation, die schnelllebig ist und kaum Pausen zulässt? Wohin trägt eine Sprache, die sich über ihre Tragweite nicht sicher ist? „das kommt uns alles kaum bekannt vor, hand aufs herz“: Das amortisiert sich nicht. Tristan Marquardts Gedichte legen den Finger vom Resultat auf den Prozess. Sie versichern: Wenn es dunkel ist, trägt ein Schatten auf die Schicht Licht, die eine Lampe auf die Dunkelheit gelegt hat, eine weitere Schicht Dunkelheit auf. Wenn es dunkel ist, hebt ein Schatten unter der Schicht Licht, die eine Lampe auf die Dunkelheit gelegt hat, die Dunkelheit wieder hervor. Betritt man sein Zimmer über eine Rückraumgrenze, geht man „in sein zimmer hinaus“. Und wenn man auf die Straße geht, ist das nicht der Park, „aber mit ein, zwei kleinen änderungen könnte er es sein“. So greifen Marquardts Texte konstruierend in das ein, was längst schon konstruiert und vorhanden ist und woran doch immer weiter noch gearbeitet wird. Im Bau Begriffenes. Was sich nicht aufrechnen lässt. Körper sondergleichen. So „als hätte man gerade das cembalo erfunden, aber vergessen, wo man es hingestellt hat.“
Scrollen in Tiefsee
Gedichte
Auf einer Zugfahrt im Herbst 2012, wenige Monate vor dem Erscheinen meines ersten Gedichtbands, stand ich vor einem Problem. Ich wollte in einem Text „Schatten“ sagen, meinte aber eine bestimmte Art von Schatten, eine, die vielleicht nur die Wahrnehmung kennt. Ich begann, verschiedene Formen von Schatten zu unterscheiden und beschreiben, Schichten von Dunkelheit, Schattenheit. Ich begann mich zu fragen, ob es so etwas wie Wahrnehmungswahrheit gibt. Nicht vage zu umkreisen, sondern festzuhalten. Etwas, das genau so sein kann, aber auch anders sein könnte. scrollen in tiefsee, mein zweiter Gedichtband, ist Fortführung, Zwischenstand und Dokumentation der Arbeit an den Fragen der Wahrnehmung, die mein Schreiben seither umtreibt. Sie werden aufgeworfen und eingefangen, kommen herein, stellen sich und werden gestellt. Wo die Straße aufreißen, um das beendete Skype-Gespräch im Kabel zu finden und zu löschen, wo man log? Wann zieht Licht den Dingen ihre Farben an, wann seine? Wie holt man einen Schock aus einem Körper und wo bringt man ihn hin? Und ist der Empfang bei gutem Wetter gefühlt besser? In einer Ausfächerung von Blicken und Begriffen, Handlungen und Behandlungen konzentriert sich die Sprache mal in einem Parzival-Lexikon, oszilliert mal zwischen Tag- und Nachtzuständen oder folgt Händen und Augen im Netz. Dazwischen setzen sich die kataloge fort, die mit den Schatten begannen. – Tristan Marquardt
Diese besondere Anthologie ist ein hehres Liebesbekenntnis der Dichter der Gegenwart zu ihren großen Vorfahren im Mittelalter. Lyriker wie Monika Rinck oder Joachim Sartorius, Durs Grünbein oder Nora Gomringer haben Minnelieder aus dem Mittelhochdeutschen übertragen. Die Herausgeber Jan Wagner und Tristan Marquardt laden damit ein, alle großen Dichter des Hochmittelalters kennenzulernen. In diesen Gedichten betreten wir nicht nur ein über achthundert Jahre altes Neuland, eine Welt, deren Begehren uns nah und fremd zugleich erscheint. Die fantastisch unterschiedlichen Übersetzungsweisen durch über sechzig heutige Dichter zeigen darüber hinaus, was für Ideen die Gegenwartslyrik heute prägen.