Edouard Glissant beschreibt ein „archipelisches Denken“, das von seiner karibischen Herkunft geprägt ist und Vielheit sowie Offenheit fördert. Für ihn ist das Meer ein verbindendes Element, das kulturelle Eigenheiten bewahrt, während kontinentales Denken eine umfassende Einheit postuliert. Dieses systematische Denken blendet intuitive und ambivalente Gegenströmungen aus und hat Europa als kontinentale Einheit geprägt, die nie ihre Außenseiter exportierte, sondern ideologische Strömungen wie den Kartesianismus und Marxismus. Europas Wurzeln liegen im klassischen Denken des Mittelmeerraumes, das von Land umgeben ist und monolithische Strukturen hervorgebracht hat, einschließlich der drei monotheistischen Religionen und bedeutender antiker Reiche. Paulo Freire widerspricht ebenfalls dem kontinentalen Denken, indem er die Vielfalt der Kulturen anerkennt und fordert, dass seine Ideen überall neu interpretiert werden müssen. Der Reichtum seiner Ansichten liegt in ihrer globalen Anerkennung und der Fähigkeit, Anhänger zu gewinnen.
Joachim Dabisch Livres






In einer zunehmend interdependenten und entgrenzten Welt ist es entscheidend, über die Schaffung eines individuellen und globalen Bewusstseins nachzudenken, das eine harmonische Ganzheit der Menschheit fördert. Interkulturelles und Globales Lernen können in Schulen und außerschulischer Bildung dazu beitragen, insbesondere in Zeiten des Wandels, wenn bestehende „Sicherheiten“ in Frage gestellt werden und Unsicherheit im Denken und Handeln der Menschen entsteht. In solchen Momenten wächst der Ruf nach Ordnungen, die Orientierung im Alltag bieten. Historisch gesehen haben solche Erwartungen oft zu Unmenschlichkeiten und hierarchischen Machtstrukturen geführt, aber auch zu Systemen, die ein humanes Zusammenleben ermöglichen, wie etwa in demokratischen Gesellschaften. Es wird nicht angestrebt, eine radikale Revolution herbeizuführen, doch in einer globalisierten Welt sind Fragen nach der Weltregierung und der Gestaltung eines gerechteren Lebensraums von großer Bedeutung. Die Debatte darüber, ob die Entwicklung weiterhin auf „business as usual“ oder auf nachhaltige Entwicklung abzielt, bleibt offen. Das Worldwatch Institute warnt vor den drängenden Herausforderungen für eine gerechtere und humanere Welt und fordert Nachhaltigkeit als Lebensperspektive.
Dialogisches Denken und Bildung als Praxis der Freiheit
Paulo Freire Kongress Hamburg 9. bis 11. November 2018
In diesem 20. Band der Jahrbuchreihe stehen Beiträge zum Lebenswerk Gordian Troellers, dem unvergessenen Filmemacher, dem als Ziel galt, Moral und Ethik über Macht- und Profitstreben siegen zu lassen. Manfred Liebel stellt in seinem Beitrag Troellers Filmreihe Kinder der Welt in einen beeindruckenden Zusammenhang zu den unterschiedlichen Kulturen dieser Erde. Er benutzte kein Drehbuch, sondern näherte sich den Menschen ebenso wie Freire auf dialogische Art. Christel Adick nutzt die dialogische Herangehensweise Troellers zu einer situationsbedingten Umsetzung seiner Filme als Reflexionsangebot für Lehrerinnen und Lehrer im Aus- und Weiterbildungsbereich. Die Rückschlüsse aus der Beschäftigung mit Troellers filmischem Schaffen sollen Motivation zum Verstehen, zum Argumentiren und zum Verändern sein. Peter Zimmermann stellt Troellers Werk in den Zusammenhang der Einen Welt, dem Scheitern entwicklungspolitischer Experimente und dem Elend der Welt. Diese Diskussion ist längst nicht abgeschlossen, besonders nicht durch die Diskussion über Neoliberalismus und die Folgen eines sich immer weiter entwickelnden Freihandels, durch den es einerseits Gewinner, andererseits zahlreiche Verlierer in dieser Welt gibt. Im Zusammenhang mit dem vergangenen Luther-Jahr verweist Ronald Lutz auf wichtige Fragen Martin Luthers, wie der Mensch seine Ethik mit Maßstäben zur Rechtfertigung seines Handelns in Einklang bringen kann. Auf der anderen Seite hatte die Reformation mittels der massenhaften Reproduktion der Bibelübersetzung Luthers die erste große Alphabetisierungswelle in Deutschland in Bewegung gesetzt. Der Wunsch der Menschen war deutlich, nämlich ihre religiöse Welt im Original zu verstehen und Abstand zu nehmen von den bunten Kirchenfenstern und den damaligen Deutern dieser Bilder. Nach Lutz findet sich die Religion heute in einer säkularen Welt wieder und muss Weltbeziehungen herstellen, um gutes Leben und Frieden zu verlangen. Das wiederum ist nur mit dialogischen Prinzipien möglich, so wie auch Freire von den südamerikanischen Befreiungstheologen als Theologie gelesen wird. Stefan Silber und Dirk Oesselmann stellen daher auch die Notwendigkeit einer befreienden Theologie bzw. Pädagogik in den Mittelpunkt ihrer Beiträge. Hier lässt sich ein starker Bogen zwischen Lateinamerika und Europa ziehen, bei aller Problematik einer zu starken Differenzierung und Vielschichtigkeit. Weitere Beiträge beschäftigen sich mit konkreter Bildungsarbeit mit Menschen verschiedener Kulturkreise. Einerseits werden von Jens Möller Projekte der praktischen Solidaritätsarbeit nach Kriterien der Theorie Paulo Freires vorgestellt, andererseits stellt Inkje Sachau Religion und Religionszugehörigkeit in einen Zusammenhang mit konkreter Friedensarbeit. Meike Roth-Beck ist Religionspädagogin und beschäftigt sich mit interreligiösen Dialogen als Bestandteil pädagogischer Prozesse. Sabrina Weiß richtet ihr Augenmerk auf das Ankommen von Migranten, deren Integrationschancen steigen, wenn sie sich zu religiösen Gemeinschaften ihrer Herkunftsländer zusammenschließen. Saba-Nur Cheema schließlich weist auf die negativen Berichte über den Islam hin. Im pädagogischen Raum wird Fehlverhalten von muslimischen Schülerinnen und Schülern oftmals durch ihre Religionszugehörigkeit erklärt.
Einer der Arbeitsschwerpunkte Paulo Freires ist über mehrere Jahre in Afrika gewesen. In verschiedenen früheren portugiesischen Kolonien ging er mit den Menschen den Zielen der Befreiungsbewegungen entgegen und fragte unter anderem, ob es nach Jahrhunderten der Kolonialgeschichte noch afrikanische Lebensweisen, Produktionsverhältnisse, Kulturen, Sozialwesen gebe, die zu entdecken und zu erneuern seien. In seinen verschiedenen Kampagnen ging es ihm um die Entkolonialisierung des Bewusstseins. Überall – auch im Gesundheits- und Erziehungswesen, in der landwirtschaftlichen Beratung sei es von zentraler Bedeutung, dass das Volk sich seiner eigenen Geschichte bemächtige, das koloniale Erbe zu überwinden, sich selber in dem Prozess der Aneignung von Geschichte zu stärken, seinen eigenen Weg der Befreiung zu gehen. Dabei war ihm der Gedanke Amilcar Cabrals nahe, es gebe keine Revolution, keine Befreiung ohne Träume nach vorne, ohne die Sehnsucht nach einer menschlichen Zukunft. In einem seiner Handbücher der Volkskultur wird ein Rechtsgedanke betont: „Das Recht unseres Volkes, das jetzt frei von kolonialistischer Ausbeutung ist, zu lesen, zu schreiben, schöpferisch zu sein, sich auszudrücken, seine Kultur zu entfalten.“ Gegen die kapitalistische Politik der Kolonialisten gerichtet, wurde die Schöpfung einer wirklich gerechten Gesellschaft in die Hände des Volkes gegeben – einer Gesellschaft ohne Ausbeuter und Ausgebeutete, einer veränderten Welt der schöpferischen Arbeit. So heißt es unter der Überschrift „Arbeit und Veränderung der Welt“: „Der Baum gehört zur Welt der Natur. Das Boot, das Antonio und Pedro machten, gehört zur Welt der Kultur, die die Menschen durch schöpferische Arbeit erschaffen.“ Diese nicht-entfremdende Arbeit gebe den Frauen und Männern ihre Würde, ihre gegenseitige Achtung. Arbeit wird hier gedeutet als Beitrag zur Schaffung einer gerechten Gesellschaft, einer Gesellschaft ohne Ausbeuter und Ausgebeutete – freilich in dem gemeinsamen Gehen eines langen Wegs, in der solidarischen und dialogischen Gestaltung eines geschichtlichen Prozesses.
Differenzierungen in der Pädagogik
Selbstbegrenzung als Chance
Unterschiedlichste Wertordnungen durchdringen zunehmend die Gesellschaft und beeinflussen das individuelle Bewusstsein. Diese Pluralität führt dazu, dass Menschen mehrere Ansichten über dieselbe Erkenntnis entwickeln, ohne dass eine als richtig oder falsch bewertet werden kann. So existieren verschiedene Urteile über denselben Gegenstand, die sich nicht gegenseitig ausschließen oder konkurrieren. Gegensätzliche Lebens- und Erkenntnisprinzipien können nebeneinander bestehen. In diesem Kontext wird der Mensch in seinem Heranwachsen von der Gesellschaft und ihren Institutionen geprägt, muss sich kulturellen Überlieferungen und ökonomischen Gegebenheiten anpassen und hat wenig Möglichkeit, sich dagegen zu wehren. Dennoch widerspricht die Einzigartigkeit der menschlichen Individualität dieser Fremdbestimmung. Selbstverwirklichung ist nur durch die Überwindung bestehender sozialer, gesellschaftlicher und religiöser Ansichten möglich. Im Spannungsfeld von Freiheit und Verantwortung steht der Einzelne oft allein da und muss im Extremfall hohe Preise für seine Freiheit zahlen, einschließlich Konkurrenz und Vereinsamung. Die Normen, die das Alltagsleben bestimmen, sind schwer zu benennen, und sinnintegrierte Bedeutung ist in vielen Lebensbereichen kaum mehr vorhanden, weshalb traditionelle Modelle der Daseinsbewältigung oft unbrauchbar geworden sind.
Pädagogik wird häufig als Bildungswissenschaft verstanden, die aus philosophischen Konzepten sowie Objektbehauptungen und Bezugstheorien besteht. Der Fokus liegt auf dem Grundverhältnis von Individuum und Gesellschaft sowie dem Verhältnis von Mensch und Welt. Idealistisch betrachtet zielt Pädagogik darauf ab, die Freiheit des Kindes zu unterstützen und seine natürlichen Bestrebungen zu fördern. Diese Erkenntnistheorie bietet jedoch keine Antworten auf Paradoxien, Mehrfachbeziehungen und die Komplexität sozialer Prozesse, die oft zufällige und ungewollte Folgen haben. Die Postmoderne kennzeichnet sich durch das Leben in Widersprüchen und die Akzeptanz pluraler Theorien, was es unmöglich macht, Bildung und Erziehung aus diesem Kontext zu lösen. Vielmehr sind ein pädagogischer Pluralismus und die Existenz vieler Welten grundlegend. Als historische Disziplin umfasst die Pädagogik stets verschiedene Tendenzen. Rekonstruktion und Dekonstruktion des Erziehungswesens sind daher eng miteinander verbundene Aspekte eines sich auseinanderentwickelnden Diskurses. Erziehung und Bildung bleiben relevant und sind Ausdruck postmoderner Gesellschaften, erfordern jedoch Kommunikationsmechanismen, die durch Regelhandeln kontrolliert werden.